Oder: Wie wir manchmal denken, etwas denken zu müssen, was aber nichts mit unserem eigentlichen Denken zu tun hat.
Auf MacUser.de fragt ein Forumsmitglied:
»Mir geht es um die Frage, wie man jemanden dazu bringen kann frei zu denken. Wie kann man das jemandem lehren?
Mich beschäftigt diese Frage, da ich einige Menschen kenne, die nie gelernt haben frei zu denken, die nie gelernt haben sich eine freie Meinung zu bilden!
Mich interessiert auch, wie man Kindern beibringt, frei zu denken. Frei denken heißt in meinem Sinn aber nicht frei von Moral.
Welche Fragen muss man wie stellen? Was könnte ich lesen? Wer hat was dazu zu sagen?«
Philosophische Fragen in Technikforen. Willkommen im Jahr 2012.
Mich berührt diese Frage und auch die Art, wie sie gestellt wird. Sie ist so substanziell. Menschlicher Ruf lugt aus den digitalen Ritzen. Und: Sie steht nicht auf einer Seite mit philosophischen Fragen. Nein – sie wird ausgerechnet auf einer Technikseite in einem bekannten deutschen Apple-Forum gestellt. Willkommen im Jahr 2012.
Mit der Netiquette zur »Truman Show«
Gerade die Online-Welt bietet viele Kommunikations-Spielfelder an, die zwar auf den ersten Blick sehr frei wirken, aber dennoch stehen viele unausgesprochene Regeln im virtuellen Raum. Da gibt es Regelwerke wie allgemeine oder maßgeschneiderte Netiquetten. Hält man sich nicht dran, fliegt man raus. Das geht schnell. Ein zweischneidiges Schwert. Einerseits schützt es User, andererseits führt es zu einer Kommunikation, die an die künstliche und roboterhafte Höflichkeit erinnert, wie man sie aus amerikanischen Filmen wie »Die Truman Show« oder »Pleasantville« kennt. Bloß nicht anecken. Da wird gesmiled, zurückgerudert oder erst gar nichts gesagt. Vielleicht ist diese Vorsicht auch der Grund, warum viele User nicht wirklich miteinander kommunizieren, sondern lediglich ihren Content, ihre Botschaft platzieren.
Die Welt des Corporate Blogging. Nichts für Freidenker?
Eine Netzweltbegründung für artiges Verhalten findet man auch in der Effizienz-Welt des Corporate Blogging. Dort sagen die Experten: Wenn Sie effizient bloggen wollen, dann halten Sie sich an Ihr Profil, an Ihre Themen und orientieren Sie sich an den Bedürfnissen Ihrer Zielgruppe. Aha – also auch nichts mit Freidenkerei, es sei denn man ist Journalist, Privatier oder …
Don’ts und Do’s für Liese, Ernst und @Mückchen
Auf unzähligen Seiten erhalten auch Privatuser Tipps, wie sie erfolgreich bei Twitter, Facebook oder mit dem eigenen Blog werden. Was muss man tun? An was muss man sich halten? Was sollte man auf keinen Fall tun? Was sind die absoluten Don’ts? Wie bekomme ich problemlos und schnell viele Follower? Follower Recruitung für Liese, Ernst und @Mückchen. Regelvorschläge – kurz und prägnant. So geht es. Die Autoren sehr überzeugt – oder tun so: So ist das und nicht anders.
Wie authentisch ist denn authentisch? … und Guantanamo.
Authentisch sollte man aber auch sein. Sagen die. Nicht verkäuferisch, reißerisch oder zu zynisch – es sei denn, man hat sich auf Zynismus spezialisiert – damit sind ja auch einige sehr erfolgreich. Leider.
Also – wie authentisch ist denn authentisch? Kann ich morgens bei Twitter mal etwas rummaulen, weil ich gerade Lust darauf habe? Soll ich mich als Bäcker von glutenfreiem Kuchen oder als Anwalt für IT-Recht mal aus Überzeugung an einer aufgeladenen Guantanamo-Diskussion beteiligen? Oder mal sagen, dass man die XY-Partei geil findet und ESM bisher immer für eine Sexualpraktik hielt – brav mit LOL?
STOPP mal jetzt. Cogito ergo sum.
STOPP. An dieser Stelle könnte ich etwas vorschlagen. Ich könnte schreiben, dass man schon seine Meinung sagen kann – aber mit Maß. Dass es schön ist, seinen Gedanken nachzugehen, sie zu äußern und so was. Natürlich mit Achtung und Respekt vor dem anderen … und so. Aber das ist doch ehrlich gesagt BULLSHIT. Denn wer bist DU eigentlich? Ich kenne dich nicht. Jeder, der das liest, ist anders. Binsenweisheit und doch wahr.
Und: STOPP. Jeder weiß selbst, was wirklich wahr ist – kennt seine Wahrheit. Ganz tief in uns, wissen wir, was wir denken und wann wir denken, dass wir etwas denken müssen, was aber nichts mit unserem eigentlichen Denken zu tun hat … und: wann und wo wir das wirklich Gedachte äußern wollen.
Und damit hätten wir auch die Antwort auf die Eingangsfrage aus dem MacUser.de-Forum. Sie lautet:
Innehalten. Nachfragen. Bei sich. Nicht aufgeben. Wir sind Freidenker. Alle. Zumindest alle, die wollen.
»Cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich.«
Euer Frager
Der Frager
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