Erst mal uncool: der Verrückte auf dem Pferd und der kleine Dicke
Als Kind sah ich ihn zum ersten Mal: Don Quijote. Ein offensichtlich verrückter alter Mann in einer Rüstung ritt auf einem weißen Pferd mit einer Lanze in der Hand auf eine Windmühle zu und verhedderte sich in einem ihrer Flügel. Er hing an dem Flügel, drehte sich mit ihm und schrie wie am Spieß. Dabei schlug er die ganze Zeit auf ihn ein. Ich starrte gebannt auf den Fernseher und fühlte mich schlecht. Erwachsene, die so außer Kontrolle gerieten, waren mir nicht geheuer.
Der Mann mit dem Ziegenbart wurde schließlich auf den Boden geschleudert. Dort lag er dann. Erbärmlich sah das aus. Uncool. Er schrie trotzdem weiter. Irgendwas hatte er mit diesen Windmühlen. Ich erkannte, dass er sie für Riesen hielt. Der kleine dicke Bauer, der ihn begleitete, rannte zu ihm hin und versuchte, ihn zu beruhigen. So was hatte ich noch nie gesehen. Eins war klar: Das waren auf keinen Fall Helden. Komisch waren sie auch nicht. Ich konnte sie nicht einordnen und deshalb schob ich sie in meinem Kindergedächtnis ganz weit nach hinten – dahin, wo schlechte Noten lagen, der Katzenbiss, unbrauchbare Geschenke, die 7:0 Fußball-Niederlage.
Der Kampf gegen Windmühlen – die Wiederbegegnung mit Don Quijote und Sancho Pansa
Viele Jahre später, als ich in einem Café saß, entdeckte ich an der Wand eingerahmt eine Zeichnung. Ich erkannte die beiden sofort. Picasso hatte sie mit wenigen Strichen gut getroffen. Der lange Dürre und der kleine Dicke. Die Glücklosen. Dick und Doof aus Spanien. Da waren sie also wieder.
Nun kreuzten die beiden immer mal wieder meinen Weg. »Der Kampf gegen Windmühlen« las ich manchmal in der Zeitung. Das waren vergebliche Kämpfe gegen übermächtige Gegner: das Finanzamt, das Rauchen in Restaurants, tief fliegende Düsenjäger – der Kampf eines Ladenbesitzers gegen ausgespuckte und festgetretene Kaugummis in einer Fußgängerzone. Irgendwie auch der Kampf der Aufgeregten, Verärgerten, der Wild-um-sich-Schlagenden. Endlose Episoden von Nichtgewinnern. Ich machte mir Gedanken. Kannte ich diese Rollen aus meinem eigenen Leben? Aber ja! Verblendet, irregeleitet, idealistisch hatte ich auch schon gegen zu große Gegner gekämpft – wie Don Quijote. Und ich kannte auch die Rolle Sancho Pansas, als scheinbares Opfer, das aber, das erfahrt ihr gleich, auch was wollte, ein Ziel hatte.
Nun hatte die Geschichte von Don Quijote also meine Aufmerksamkeit.
Die Story stammt von dem spanischen Schriftsteller Miguel de Cervantes. »Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha« heißt das Werk übersetzt ins Deutsche. Ein zweiteiliger Roman, der Anfang des 17. Jahrhunderts in Spanien erschien, schnell ein Besteller wurde und heute anerkannt zur Weltliteratur gehört.
»Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha« – die Story in Kurzform
Alonso Quijano ist ein kleiner Landadeliger aus der Mancha – einer Gegend in Spanien. Er verschlingt Ritterromane, Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit. Er möchte auch gerne ein Ritter sein und Heldentaten bestehen. Er nennt sich Don Quijote de la Mancha und tauft sein Pferd um in Rosinante. Seine heimliche Jugendliebe nennt er Dulcinea von Toboso. So gepimpt zieht er dann in einer alten rostigen Ritterrüstung los, um Abenteuer zu suchen. Auf der ersten Reise scheitert er auf allen Ebenen. Er gibt aber nicht auf und nimmt im zweiten Anlauf Sancho Pansa als seinen »Stallmeister« mit. Einen einfachen Bauern, der zwar die Verrücktheit seines Herrn erkennt und darunter leidet, der aber trotzdem mitzieht, weil ihm Don Quijote als Belohnung eine eroberte Insel versprochen hat. Don Quijote deutet in seinem Wahn alles um. Eine einfache Wirtschaft wird zum Kastell, die Huren werden zu Burgfräulein und der Wirt zum Kastellan. Alle Eroberungen und Wettkämpfe scheitern. Unter anderem auch der berühmte Kampf gegen die Windmühlen, in denen Don Quijote bekämpfenswerte Riesen sieht. Heute ist die Episode »Der Kampf gegen die Windmühlen«, die ich als Kind im Fernsehen gesehen hatte, die bekannteste Episode des Romans. Sie spielt in diesem aber nur eine untergeordnete Rolle.
Warum mich Don Quijote und Sancho Pansa so faszinieren
Kennt ihr den Mexican Standoff? Das ist diese Situation, in der sich drei Männer mit gezogenen Pistolen gegenüberstehen und sich gleichzeitig bedrohen. »Leg sofort deine Pistole hin!«, »Du zuerst!«, »Nein! Du zuerst!« So geht das dann eine Weile. Die Situation ist wie eingefroren. In Filmen endet sie mal friedlich, mal als Gemetzel – also: Alle sind danach tot. Das ist in der Don-Quijote-Situation, so nenne ich sie, völlig anders. Sie ist dynamisch. Immer in Bewegung. Wenn wir mit einer imaginären fliegenden Kamera Don Quijote und Sancho Pansa auf ihren Abenteuern begleiten, uns um sie drehen, reiten sie immer weiter, von Abenteuer zu Abenteuer, von Scheitern zu Scheitern. Sie reiten bis in unsere Zeit hinein. Es hört nie auf. Und plötzlich erkennt man: Der Autor Miguel de Cervantes hat uns ein Geschenk gemacht. Er hat eine Lunte gelegt. Wenn wir sie anzünden, geht am anderen Ende eine volle Ladung Lernstoff hoch.
Was aber können wir von Don Quijote und Sancho Pansa lernen?
Wir können ganz schön viel lernen.Ich möchte diesen Blog-Artikel aber nicht überfrachten. Und da ich der Meinung bin, dass die meisten Menschen sowieso viel klüger sind, als sie glauben (okay – manchmal auch umgekehrt), werde ich auch nur die für mich bedeutendsten Aspekte ansprechen. Zum Weiterdenken.
• Don Quijote ist verblendet von seinem Ideal und deutet alles komplett um. Er kann die Realität nicht mehr richtig einschätzen und scheitert. Hier meint Dr. Leopold Faltin, den ich zum Thema interviewt habe: »Zunächst steht der Vergleich zwischen Realität und Idealbild im Vordergrund. Eine Idee, ein Ideal dient als Ziel künftigen Handelns. Je mehr sich das Ideal von der wahrnehmbaren Realität entfernt, desto mehr wird es zur Utopie, die einen Menschen letztlich auf Irrwege bringen kann. »Don Quijote« zeigt, welche Kraft in Zielen, Idealen und Utopien steckt – Niederlagen und Prügeln zum Trotz.«
• Sancho Pansa weiß zwar, dass Don Quijote nicht zurechnungsfähig ist, begleitet ihn aber trotzdem, weil er an die Insel als Belohnung glaubt. Bedauern wir nicht manchmal vermeintliche Opfer? Haben sie nicht auch ein Ziel, einen Plan?
• Manchmal sind wir Don Quijote, manchmal Sancho Pansa. Manchmal sind wir beide in einer Person.
• Wie können wir einem Menschen vermitteln, dass er sich einer Don-Quijote-Situation befindet? Also Don Quijote oder Sancho Pansa ist oder beides zugleich?
• Vielen Erfindern und Visionären (Kolumbus, Edison, Gandhi) wurde vorgeworfen, dass sie verrückt seien und gegen Windmühlen kämpfen. Als sie dann aber erfolgreich waren, wurden sie gefeiert. Wann sollen wir weitermachen – wann aufhören?
• Was ist der produktive Aspekt an der Don-Quijote-Situation? Könnten wir auch bewusst eine Don-Quijote-Situation wählen, bspw. als Katalysator in der ersten Phase eines Projekts? Können wir aus guten Gründen jemanden im Team zum Don Quijote oder Sancho Pansa werden lassen?
Ihr merkt schon, die Don-Quijote-Situation gibt viel her. Spielt ruhig gedanklich ein wenig damit.
Ich schließe den Artikel, gehe aber doch noch einen Schritt weiter. Mit Dr. Leopold Faltin. Er ist Autor, Coach und Berater aus Wien. Ich habe ihn bei Twitter kennengelernt. Er hat so ein neugieriges Blitzen in den Augen und arbeitet lösungsorientiert. Gute Wahl, denn wir haben während dieses Projekts viel hin- und hergemailt. Das war sehr aufschlussreich, unterhaltsam und hat Spaß gemacht. Die richtige Entscheidung also. Ihn habe ich zur Don-Quijote-Situation interviewt.
»Mutig die Windstille abwarten.«
Die Don-Quijote-Situation aus der Sicht eines Unternehmenscoachs. Der Frager im Interview mit Dr. Leopold Faltin.
Der Frager: Herr Dr. Faltin, seit wie vielen Jahren arbeiten Sie als Coach und Berater? Wen beraten Sie überwiegend?
Leopold Faltin: Ich bin seit 2002 selbstständig, seit 2006 hauptberuflich. Davor habe ich ebenso lange firmenintern gecoacht und beraten. Meine Kunden sind vorwiegend Führungskräfte. Meine akademische Ausbildung als Physiker verschafft mir auch Zugang zu meiner zweiten großen Zielgruppe: Beratern und Wissenschaftern.
Kannten Sie den Roman von Miguel de Cervantes? Welche Bilder und Situationen waren Ihnen bekannt?
»Don Quijote« habe ich in einer bearbeiteten Fassung als Jugendlicher gelesen und damals wohl nicht richtig eingeschätzt. Die Abenteuer waren für mich zu unrealistisch und haben mich eher zum Kopfschütteln veranlasst. Neben der Windmühlen-Episode sind mir noch der Kampf gegen die Hammel-Heere sowie die Naivität Don Quijotes in Erinnerung.
Welche Aspekte der Don-Quijote-Situation finden Sie interessant? Welche kommen Ihnen aus Ihrer Beraterpraxis bekannt vor?
Was ich seinerzeit als eher überzogen abgelehnt habe, fasziniert mich heute: die fantasievolle Einladung, Ideale als eigene Wirklichkeit zu sehen.
Zunächst steht der Vergleich zwischen Realität und Idealbild im Vordergrund. Eine Idee, ein Ideal dient als Ziel künftigen Handelns. Je mehr sich das Ideal von der wahrnehmbaren Realität entfernt, desto mehr wird es zur Utopie, die einen Menschen letztlich auf Irrwege bringen kann. »Don Quijote« zeigt, welche Kraft in Zielen, Idealen und Utopien steckt – Niederlagen und Prügeln zum Trotz.
Das zwingt zum Nachdenken über das Scheitern. Niemand sagt, dass Helden prinzipiell verlieren müssen – gewinnen ist auch Helden erlaubt! Dazu dient das Reflektieren des Scheiterns, das auf neue Wege führen kann, neue Wirklichkeiten und damit auch neue Ziele schafft.
In Sancho Pansa wiederum hält Cervantes seinen Lesern provokant einen Spiegel vor: Was tut man nicht alles für große Belohnungen …
Besonders wichtig ist mir, wie Don Quijote in anderen Menschen das sieht, was er sehen will.
Nehmen wir an, ein Mensch in einer Don-Quijote-Situation sitzt vor Ihnen. Er ist sich dessen bewusst, weiß aber nicht genau, wie er weiter vorgehen soll. Welche Hilfe könnten Sie ihm anbieten?
Jeder Mensch kann scheitern. Samuel Beckett lässt Pozzo beim »Warten auf Godot« über ein besseres Scheitern nachdenken.
Dafür ist Einsicht notwendig oder zumindest eine einsichtige Hypothese, was das Scheitern ausgelöst haben könnte. Hier setzen Coaching und Beratung an: Wie realistisch ist das gesetzte Ziel unter den gegebenen Voraussetzungen? Welche Voraussetzungen sind vielleicht übersehen worden? Ist ein Muster des Scheiterns erkennbar? Welche Ausnahmen sind beim Scheitern vorgekommen?
Und lassen Sie uns auch annehmen, dass Sie ein Mensch konsultiert, der die Rolle des Sancho Pansa übernommen hat und das auch erkannt hat. Sein Don Quijote könnte beispielsweise der Chef, ein Vorgesetzter oder auch ein Kollege sein. Wie würden Sie da vorgehen?
Sancho Pansa ist der abhängige Diener seines Herren, der um einer hohen Belohnung willen Demütigungen und Niederlagen in Kauf nimmt. Don Quijote weiß, womit er Sancho Pansa in Bewegung setzt. Dessen Blick wird aber durch einen inneren Konflikt aufgrund eigener Interessen getrübt. Sancho Pansa auf diesen Konflikt aufmerksam zu machen und so zur Einsicht zu führen, dass er seinen Job wechseln sollte, könnte hier nützlich sein.
Bisweilen kann es MitarbeiterInnen utopisch erscheinen, Gehör bei Vorgesetzten oder Kollegen zu finden. Dann geht es darum, zurück in die Realität zu finden: Wer hat den besten Zugang zur Führungskraft? Wem glaubt sie? Welche Werte der Führungskraft bestimmen ihr Denken und wie kann man diese mit dem anzusprechenden Thema verknüpfen, um das Gegenüber emotional in Bewegung zu setzen?
Was können wir aus Ihrer Sicht aus der Don-Quijote-Situation lernen? Welcher produktive Aspekt steckt in »Don Quijote«?
Es sind die motivierenden Wirkungen selbst gesteckter Ziele, Ideale und auch Utopien; es ist die Fähigkeit von uns Menschen, diese Wirkung auch bei anderen Menschen empathisch hervorzurufen; das Urteilsvermögen bezüglich Möglichkeiten; die Außenperspektive, die blinde Flecken eines Menschen erkennt und Verborgenes wahrnehmbar macht; die Suche nach eigenen Gestaltungsmöglichkeiten; und es ist die Fähigkeit, gewonnene Erkenntnisse so zu kommunizieren, dass sie angenommen werden. Cervantes wollte uns in seiner Geschichte aus den Fehlern der Protagonisten lernen lassen.
Wie können wir vor neuen Herausforderungen oder Begegnungen mit Menschen die Don-Quijote-Situation vermeiden?
Wir erkennen sie oft erst, wenn wir schon voll drinstecken. Wichtig ist dann, einen klaren Kopf zu bewahren und die Situation sukzessive immer besser zu verstehen. Das kann die Herausforderung in einem ganz neuen Blickwinkel zeigen. Das kann zum Schluss führen, bewusst aufzugeben; vielleicht auch nur einstweilen – bis sich die Voraussetzungen geändert haben. Das kann aber auch dazu führen, es doch zu versuchen und das Scheitern nach einer Risikoabwägung bewusst in Kauf zu nehmen.
Stellen Sie sich vor, Sie reisen mit einer Zeitmaschine zu dem Moment, in dem Don Quijote auf sein Pferd steigt, um gegen die Windmühlen zu reiten. Was sagen Sie ihm? Und was sagen Sie zu Sancho Pansa?
Cervantes hat Don Quijote und Sancho Pansa als Utopisten erschaffen. Es geht also darum, die Utopie selbst zur Lösung zu machen.
Somit rücke ich wohl oder übel zunächst mit den beiden gegen die Windmühlen vor, um Empathie zu zeigen. Sobald ich eine ausreichende Verbindung mit ihnen spüre, mache ich sie darauf aufmerksam, dass wahres Heldentum nicht im Ausfechten aussichtsloser Kämpfe besteht, sondern darin, selbst Bedingungen zu schaffen, die einen Sieg möglich machen. Hier heißt das, mutig Windstille abzuwarten, um zu erkennen, dass die vermeintlichen Riesen angesichts dieses Schachzugs vor Bewunderung und Schrecken ganz von alleine erstarren. Sancho Pansa steht dabei sicher auf meiner Seite.
Vielen Dank an Leopold Faltin für das Interview.
Und hier geht es zur Website von Leopold Faltin.
Der Frager
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