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September 2015

Allgemein

Flüchten in fremden Schuhen. Wo geht ihr hin – liebe Flüchtlinge?

Flüchtlinge

Bei Twitter hatte jemand gepostet, dass sie am Hamburger Hauptbahnhof dringend Streichkäse und Schokolade (und noch etwas, das ich vergessen habe) benötigen. Eine komische Mischung, dachte ich.
Die Flüchtlinge sitzen in der Mitte der Wandelhalle des Hauptbahnhofs. So hatte ich es gelesen. Kommen und gehen. Ich sehe immer nur die Bilder in den Zeitungen, im Internet, im Fernsehen. Fragmente. Bildfetzen. Ich schwanke zwischen Besorgnis – wo sollen sie alle hin? Und Entsetzen, weil sie hin- und hergeschubst werden. Das tut mir leid. Die Länder unseres freien Europas schließen nach und nach die Grenzen.Ich versuche im Fernsehen die Augen der Flüchtlinge zu erkennen. Das ist schwer. Ich will sehen, wie es ihnen geht. Das gelingt mir nicht. Ich fühle mich abgeschnitten. Welche Meinung soll ich mir bilden?

Plötzlich, abends, da drängt was in mir. Ich will jetzt dahin. Schauen, was ist. Zum Hauptbahnhof ist es sehr weit. Ich hatte gelesen, dass es in der Nähe des Volksparkstadions ein Flüchtlingscamp gibt. Ich fahre zum Supermarkt, kaufe 60 Tafeln Schokolade und komme mir doof vor. Denke aber, dass die Kinder es vielleicht nicht so doof finden und sich freuen werden.

Es ist dunkel draußen. Hinter dem Volksparkstadion hat sich eine ungewöhnlich dicke, dunkle Wolkenwand aufgebaut, in der es blitzt und donnert. Die Wolkenwand sieht aus wie die Alpen. »Das schaut ja aus wie die Alpen!«, rufe ich einer vorbeifahrenden Radfahrerin zu. Sie nickt.
Ich denke über die Menschen im Camp nach, die sich vielleicht vor dem Gewitter fürchten. So eine Mischung aus Fremdheit und Alleingelassensein. Die Kinder fürchten sich bestimmt. Ganz sicher. Ich kenne dieses Gefühl. Kinderängste sind in allen Ländern gleich. Glaube ich.

Ich fahre dem Dunkel mit dem Fahrrad entgegen. Die Schokolade in meiner Tasche wiegt mehr, als ich dachte. Ich fahre durch dunkle Industriestraßen. Am Volksparkstadion sind alle Wege und Kassenhäuschen beleuchtet. Niemand ist unterwegs. Ich kann keinen fragen. Ich finde das Flüchtlingscamp nicht. Fahre wieder zurück mit all der Schokolade und ärgere mich, dass ich vorher bei Google Maps nicht genau geschaut habe, wo das Camp liegt.

Zwei Tage später mache ich wieder einen Anlauf. Wieder nehme ich die Schokolade mit. 60 Tafeln. Es kommt mir absurd vor. Ich fahre mit dem Auto am helllichten Tag und frage mich durch.
Der Mann am Straßenrand mit dem Kombi und dem Hund hilft mir weiter. Rechts. Dann noch mal rechts und da ist es. Man sieht es. Es liegt bei der Müllverbrennungsanlage. Das Wort gibt einen Stich. Da wohnen sie also gerade.

Ich finde das Camp, nehme die Tasche mit Schokolade und gehe los. Ich stehe gleich vorne am Zaun. Eine Tür ist nicht zu sehen. Ich sehe zwei Campbewohner vor einem Zelt sitzen. Ich winke ihnen zu. Winke immer wieder. Rufe ihnen fragend zu, wo denn der Eingang sei. Sie winken nur ab.
Ich gebe nicht auf, gehe weiter am Zaun vorbei und gelange zu einer Einfahrt. Nun sehe ich viele Flüchtlinge. Ein netter junger Securitymann fragt mich, wo ich denn hinwolle. Ich erzählte ihm das mit der Schokolade. »Das geht leider nicht. Sie können sich aber einen Besucherschein besorgen. Auf der anderen Seite des Camps gibt es einen Container, dort bekommen Sie ihn.«

Ich gehe weiter, frage mich durch. Zwei Männer in einem Container mit blauer Uniform. »Wen ich den besuchen wolle?« Ich kenne natürlich keinen. Dann gehe es nicht. Es könnten auch nicht gerade erwünschte Menschen das Camp besuchen. Das solle ich bitte verstehen. Ich verstehe es. Die Flüchtlinge dürfen aber rein und raus – versichert man mir.

Ich gehe zurück. Beobachte hinter einem Zaun die Verteilung von Kleidung. Ein junger Mann kommt auf mich zu – vielleicht 16 oder 17. Er ist sehr freundlich.
»Ich habe Schokolade. Könnt ihr die verteilen?« »Aber klar.«
B. fragt, ob ich helfen wolle. Klar, will ich. »Na, dann komm doch.« Er hilft mir rein. Erklärt mir alles.
Plötzlich geht alles ganz schnell. Ich bin Helfer. Schuheholer. An einem Tisch neben vielen Tischen. Die zwei Helferinnen links neben mir holen Pullover, Jacken, Hosen. Ich hole Schuhe. Frauenschuhe. Männerschuhe. Kinderschuhe.
Wir, circa 20 Helfer, alle hinter einer Art Absperrung mit Tischen. Vor meinem Tisch steht A. Sie macht die Ausgabe. A. ist nett, sympathisch und pragmatisch. Kann sich durchsetzen. Das muss sie auch können. Ständig schieben sich neue Menschen an uns vorbei. Sie warten auf ihre Kleidung. Ich betrachte sie. Beobachte sie. Sie sind so unterschiedlich, wie Menschen eben sein können. Das beruhigt mich. Das Leben ist unterschiedlich. Wie immer. A. ruft mir Größen zu. Ich laufe los, suche Schuhe. Treffe mich mit anderen Schuhesuchern an den Pappkartons, die beschriftet sind mit »43 Winterschuhe Männer« oder »36 Frauenschuhe«.

Schnell merke ich, dass ich weniger laufen muss, wenn ich mir die Schuhe meiner ›Auftraggeber‹ anschaue. Treffe ich den Geschmack nämlich nicht, muss ich öfter laufen. Manche wollen Nike, adidas oder eine andere Marke. Haben konkrete Vorstellungen. Werden pampig und beleidigend, wenn sie es nicht bekommen. Securitymänner müssen sie aus der Ausgabearea begleiten. Andere sind trotz ihrer sehr schwierigen Lage rührend freundlich. Man möchte ihnen das Beste geben. Andere wiederum sind sehr lustig, machen Späße. Menschen sind überall gleich unterschiedlich. Aber das wusste ich auch vorher. Aber es so zu sehen, ist auf eine besondere Art beruhigend. Rührend. Die Aggressionen, die ich beobachte, befremden mich aber auch. Was wird aus all diesen Menschen? Wie viele Flüchtlinge schafft unser Land? Haben die Politiker das im Griff?
Ich denke, die Vernunft muss siegen und das Herz. Menschlichkeit und Vernunft. Ich denke an eine Lösung wie in einer guten Familie. Aber geht so was in einem Staat? Wer hat die Macht? Wer moderiert? Was wird wohl werden?

Fragen gibt es viele in mir. Ich arbeite 4 Stunden oder waren es 5? Ich bin beeindruckt. Möchte immer weiterarbeiten. Fühle mich irgendwie wohl in diesem Camp. Mitten in der Realität. Jetzt kann ich vieles besser verstehen – vor allem besser spüren. Männergrößen 42 und 44 gibt es kaum noch. Ein junger Mann aus dem Kosovo ist sauer, dass er keine Schuhe mehr bekommen hat, die ihm gefallen. Wütend wirft er die erhaltenen Schuhe über den Zaun. Zeigt sein Missfallen. Ich sehe einige missmutige und unzufriedene Gesichter. Aber auch Kinder, die versunken spielen. Coole Typen, die einfach nur dastehen. Fröhliche Frauen und Männer. Ich denke, ich bin ja auch manchmal freundlich, manchmal garstig. C’est la vie.

Ich höre auf, komme zum Ende. Zeit, zu gehen. 
Meine Schokolade liegt auf dem Boden neben einem Tisch. Niemand hat sie verteilt. Ich stecke sie in die Tasche. Verabschiede mich von den anderen Helfern. Es hat mir Spaß gemacht. Mich beeindruckt. Ich werde wiederkommen.

Beim Weggehen gebe ich einer Mutter, die Kinderwäsche zum Trocknen aufhängt, drei Tafeln Schokolade durch das Gitter. Ich komme mir ein wenig armselig vor. Sie lächelt mich an. Das hebt es wieder auf.
Goodbye und welcome. Ich komme wieder.